Interview mit Christian Kulik

Sein Name sorgte vor dem DFB-Pokalfinale 1973 für großen Wirbel. Denn Christian Kulik stand in der Startelf – und nicht Günter Netzer. Nach 90 Minuten machte er erschöpft für den langen Blonden Platz und gehörte zu den ersten Gratulanten nach dessen Siegtreffer wenige Minuten später.

Von 1971 bis 1981 spielte Kulik für die Borussia und erlebte damit deren erfolgreichste Zeit. Was seine Highlights beim VfL waren, wie er seine Rolle beim Pokalfinale sieht und wieso nach Gladbach keine großen Vereine mehr kamen, erzählt er hier im Interview.

Sie gaben Ihr Bundesligadebüt vor fast genau 50 Jahren am 2. Oktober 1971 beim Auswärtsspiel in Köln. Dann waren da die besonderen Umstände beim Pokalfinale 1973 gegen den FC. Am Samstag geht es für die Borussia wieder einmal nach Köln. Ist der FC ein besonderer Gegner für Sie?

Für mich selber natürlich nicht. Aber für die Fans und dementsprechend auch für die Mannschaft. Es ist nach wie vor so, dass die Fans eine Niederlage gegen den FC jetzt nicht gerade nicht verzeihen, aber es ist der Hauptgegner schlechthin für die Borussia-Anhänger.

Werden Sie sich das Spiel ansehen?

Ja, ich fahre ausnahmsweise mal ins Kölner Stadion, was ich seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht habe. Das letzte Derby zwischen Köln und der Borussia habe ich als Spieler erlebt. Ich bin hoffnunsgvoll. Vom Kader her sind wir besser bestückt. Es ist zwar ein Heimspiel für Köln und für sie und ihre Fans etwas Besonderes. Aber ich denke, dass wir gewinnen.

Sie wurden mit Gladbach dreimal Deutscher Meister, haben zweimal den Europapokal sowie einmal den DFB-Pokal gewonnen und waren beim sensationellen 7:1 gegen Inter Mailand (Büchsenwurfspiel) mit dabei – was war ihr sportliches Highlight?

Sportliche Highlights sind immer die ersten Male: das erste Mal Meister zu werden, das erste Mal gegen Inter zu spielen im San Siro. Anfang der 70er-Jahre waren Inter und San Siro der Verein und das Fußballstadion schlechthin. In der Regel war es damals so, dass auch in den großen Stadien eine Laufbahn drumherum war. Hier waren die Zuschauer quasi direkt an der Außenlinie. Wenn da 80.000 drin waren, war das unglaublich, wenn man aufs Feld gekommen ist. Das war sehr beeindruckend.

Generell Europapokalspiele. Die Siege mitmachen zu dürfen. Auch die Finalspiele, selbst, wenn man sie verloren hat. Da musste man erstmal hinkommen. Das waren alles große Sachen. Oder Anfield, das erste Mal Liverpool – so eine Stimmung habe ich noch nie erlebt. Das war damals schon außergewöhnlich. Schon anderthalb Stunden vorher war die Hütte voll. Die Unterstützung für die eigene Mannschaft war einzigartig. Das war ein großes Erlebnis.

Sie haben eine besondere Rolle im Pokalfinale 1973 gespielt …

Ja, ich bin ausgewechselt worden.

Was ging in Ihnen vor, als Hennes Weisweiler vor dem Spiel Ihnen den Vorzug vor Netzer gab?

Ich habe das Drumherum nicht mitbekommen. Der Trainer hat sich mit den etablierten Spielern unterhalten: „Soll ich den jetzt bringen, oder soll ich Günter spielen lassen?“ Wir haben vorher schon eine Zeitlang ohne Günter gespielt, weil er verletzt war. Seine Mutter war auch gestorben. Und dann wollte Hennes auch wohl die Mannschaft nicht mehr wechseln. Zumal auch schon feststand, dass Günter zu Real Madrid wechselt. Der Hennes hatte nicht immer ein gutes Verhältnis zu Günter.

Es war schon überraschend – vor allem für die Zuschauer. Aber ich hatte auch nicht damit gerechnet, gegen Inter Mailand zu spielen. So hatte ich auch nicht erwartet, im Pokalendspiel in der Stammelf zu stehen.

Hat Ihnen der Trainer erklärt, warum Sie spielen?

Nee, wenn, dann hat er es Berti, Jupp oder Hacki Wimmer erklärt. Das waren maßgeblichere Spieler, als ich es damals war. Mir hat er einfach nur gesagt: „Du spielst!“ Er musste sich vor mir ja nicht erklären, warum er Günter nicht aufstellt.

Sahen Sie das als Herausforderung oder war Ihnen mulmig wegen der Verantwortung?

Nein, ich hatte ja vorher schon genug Spiele gemacht. Die Verantwortung in einem Endspiel ist, dass du gewinnen willst, und dementsprechend bist du nervös. Das war die Herausforderung. Es war klar, dass die Leute sich fragen: „Warum spielt der Kulik und nicht der Netzer?“ Aber damit habe ich mich nicht beschäftigt. Die Fans von uns haben mich ja nicht ausgepfiffen, als sie die Mannschaftsaufstellung gehört haben und ich aufs Spielfeld gelaufen bin. Es ging um den Titel, und das ist immer etwas Besonderes. Wenn du es vergeigst, hast du keinen Titel, und das ist die andere Seite der Medaille. Ich habe mich gefreut, in der Startformation zu stehen. Das war kein Druck für mich wegen Günter Netzer.

Was genau ist nach dem Abpfiff nach 90 Minuten passiert?

Es war sehr heiß an diesem Tag. Ich lag auf dem Boden, da kam Günter zu mir und fragte: „Kannst du noch spielen?“ Ich habe direkt gesagt: „Nee.“ Was sich vorher auf der Bank abgespielt hat, kann ich nicht beantworten, weil ich es nicht mitbekommen habe. Gott sei Dank hat er das Tor geschossen. Wir waren Pokalsieger, er war happy, ich war happy und letztendlich auch der Trainer. Auch wenn es ihm sicherlich lieber gewesen wäre, wenn das Siegtor jemand anderes erzielt hätte.

Was empfanden Sie, als Günter Netzer wenige Minuten nach seiner Einwechslung das 2:1 erzielt hatte?

Ein Glücksgefühl. Ich habe mich immer als Mannschaftsspieler verstanden, nicht als Einzelspieler. Außerdem war ich nicht der ausschlaggebende Mann in der Mannschaft. Da waren andere Leute wie Jupp oder Hacki Wimmer. Viele andere standen in der Rangfolge über mir. Da ging es nur ums Gewinnen. Uli Stielike, der eine große Karriere hatte, ist erst spät in der Verlängerung eingewechselt worden. Er hat sich genauso gefreut, wie wenn er von der ersten Minute an auf dem Platz gestanden hätte.

Der Siegtreffer hatte in Ihnen wieder Kräfte freigesetzt. Sie rannten sofort aufs Spielfeld und haben Netzer umarmt.

Das war eine Glückseligkeit in dem Moment. Es geht um den Titel, um die Mannschaft und nicht um eine Einzelperson. Auch wenn es vielleicht für Günter eine Genugtuung gegenüber dem Hennes war. Ich glaube, er hat es auch für uns als Mannschaft so gesehen. Er wurde, wie ich es gehört habe, von Berti überredet, sich auf die Bank zu setzen. Er wollte anfangs gar nicht.

Für Günter Netzer war es das letzte Spiel, Sie blieben noch acht weitere Jahre. Wieso wechselten Sie 1981 als Kapitän der Borussia nach Antwerpen?

Jupp hatte das Amt von Udo Lattek übernommen. Im ersten Jahr machte er mich zum Mannschaftskapitän. Hat er einfach bestimmt, obwohl das nicht unbedingt mein Ding ist. Im ersten Jahr lief es auch sehr gut. Wir sind ins UEFA-Cup-Finale gekommen mit einer Mannschaft, die im Umbau war. Die großen Stars waren schon alle weg. Berti hatte aufgehört, Allan war weg. Es war ein Riesenerfolg für uns, auch wenn wir gegen Frankfurt den Pokal kurz vor Schluss aus den Händen gegeben haben. Das mit dieser Mannschaft zu erreichen, war eine große Sache.

Ich hatte dann so eine Müdigkeit im letzten Jahr. Du trainierst, Trainingslager, spielen, trainieren. Irgendwann hatte ich eine Flaute. Ich hatte nicht mehr so richtig viel Lust. Ich war aber zu jung, gar nichts mehr zu machen. Dann hat sich das mit Antwerpen ergeben. Aber es lief dort auch nicht. Bei einem Spiel in Luzern hatte ich mir eine schwere Knieverletzung zugezogen. Sie haben den Vertrag dann aufgekündigt. Das war ein bisschen unglücklich für mich gelaufen.

Es folgten die SG Düren 99, zwei kleinere Vereine in der Schweiz und schließlich der FSV Salmrohr. Warum ging es nicht mehr zu höherklassigen Vereinen?

Du bist auf einem hohen Niveau. Wir hatten viel erreicht. Und wenn du dann in eine Spirale hineinkommst, wird es immer weniger. Man hat dann auch nicht mehr so diesen Antrieb. Ich war auch am liebsten immer hier im Raum. Alles andere hat sich so ergeben. Anderen Spielern ging es genauso. Wenn die von einem großen Verein weggegangen sind und in einem gewissen Alter waren, haben sie sich nicht mehr gesteigert.

Wie kam der Kontakt nach Salmrohr zustande?

Es war eine schöne Zeit. Sportlich leider nicht. Ich weiß gar nicht, wer mich angerufen hatte. Ob der Klaus Toppmöller das war? Ich nehme an, der Kontakt ist über ihn gekommen. Wir sind leider aus der zweiten Liga abgestiegen. Für mich und Salmrohr war das nicht optimal.

Welche Rolle spielte ihr damaliger Mitspieler Wolfgang Kleff bei Ihrem Wechsel?

Er war schon länger da. Ich war ganz überrascht, dass er im gehobenen Alter bei Salmrohr spielt. Für mich war es schön, weil wir viele Jahre zusammen gespielt haben. Er ist ein lieber und lustiger Kerl. Für sein Alter hat er ganz hervorragend gehalten. An ihm lag es nicht, dass wir abgestiegen sind. Ich weiß nicht, ob er irgendwas dazu gesagt hat, mich nach Salmrohr zu holen. Ich habe ihn zwar am Samstag beim Spiel (Borussia gegen Fürth, 20.11.2021) getroffen, aber über diese alten Sachen unterhält man sich nicht. Ist alles auch zu lange her.

Gibt es etwas, das Sie in Ihrer Spielerkarriere bereut haben?

Nee, eigentlich. Ich war sehr glücklich bei der Borussia, wir hatten eine tolle Mannschaft und viel Erfolg. Es gab auch nur ein konkretes Angebot für mich, zu wechseln. 1973 wollte der Karlsruher SC mich zusammen mit Dietmar Danner fürs Mittelfeld haben. Und später, als Udo nach Dortmund gegangen ist, hat er mich gefragt, ob ich mitgehen würde. Aber das war keine konkrete Verhandlung. Für mich kam das nicht infrage.

Ich habe also nichts zu bereuen. Höchstens, dass ich das eine oder andere Mal hätte besser spielen können. Gegen Frankfurt im Endspiel hatte ich kurz vor Schluss noch eine große Chance, aber die habe ich vermasselt. Das 1:1 hätte uns sehr geholfen, den UEFA-Cup zu gewinnen. Das hat nicht funktioniert, ich habe ihn nicht reingemacht. Mal geht er rein, mal nicht.

Aber Sie hatten ja schon im Hinspiel gegen Frankfurt getroffen.

Das hat leider nicht gereicht.

Wie ging es nach der Fußballkarriere für Sie weiter? Zur damaligen Zeit wurden andere Gehälter gezahlt als heute.

Wir sind so bezahlt worden, wie der Verein das in der Tasche hatte. Am Anfang gab es keine Werbung und fix 1200 Mark Gehalt für alle Spieler. Das hatte der DFB so vorgegeben. Dann kamen noch Siegprämien dazu. Gott sei Dank habe ich meistens von Anfang an gespielt. Bei uns gab es 1000 Mark für einen Sieg. Andere Vereine haben damals, glaube ich, schon das Doppelte gezahlt. Wir hatten das Glück, dass wir überwiegend gewonnen haben.

Die Ausgaben hielten sich für einen jungen Mann in Grenzen. Wir haben sehr viel gespielt. Es gab fast nur Jahre, in denen wir Englische Wochen hatten. Wir sind fast jedes Jahr im Europapokal gewesen und immer sehr weit gekommen. 1973 waren wir in drei Endspielen. Der Rekord von damals mit den meisten Pflichtspielen steht heute immer noch. Ich glaube, wir hatten 56 Pflichtspiele gemacht. Wir waren immer gut beschäftigt, und ich wohnte mit Familienanschluss in der Bude. Die hatte vielleicht zehn Quadratmeter. Ich habe also nicht viel für die Miete ausgegeben. So blieb ein bisschen für mich übrig. Fürs ganze Leben reichte das natürlich nicht. Man musste gucken, wie man klarkommt. Ich habe es irgendwie hingekriegt, dass es uns immer gut ging.

Sie gehören zu den wenigen älteren ehemaligen Spielern, die man noch im Stadion sieht.

Durch Corona war ich am Samstag das erste Mal seit anderthalb Jahren wieder im Stadion. Ich bin noch mit der Jüngste. Wolfgang ist jetzt 75. Herbert Wimmer war sonst auch öfter im Stadion … Es kommt auch immer auf das Spiel an. Wenn es ein gutes Spiel ist, kommen mehr, die es sehen wollen. Gegen Fürth war kaum einer da. Coronabedingt traut sich der ein oder andere auch nicht vor die Tür. Hacki ist 77, Günter ist 77 und kommt natürlich nicht aus der Schweiz für irgendein Spiel, Jupp ist 76 – er geht, glaube ich, schon lange nicht mehr ins Stadion.

Haben Sie darüber hinaus noch Kontakt zu ehemaligen Mitspielern?

Mit meinem Freund Dietmar Danner, mit dem ich über Jahre auf dem Zimmer war, habe ich als einzigen noch regelmäßig Kontakt. Wilfried Hannes, Hacki Wimmer, Herbert Laumen, Rainer Bonhof – die treffe ich noch im Stadion. Es gib zwei, drei Tische, die für die Alten reserviert sind. Der Verein hat sich in den letzten Jahren immer sehr um die Älteren bemüht. Zu den Jubiläen gibt er immer ein Essen im Stadion für uns aus. Da wir fast jedes Jahr etwas gewonnen haben, treffen wir uns schon öfter. In zwei Jahren ist 50. Jubiläum des DFB-Pokal-Sieges. Das ist Wahnsinn. Zwei Jahre später hast du wieder eine Meisterschaft, da isst du schon wieder. Man ist ja nur am Essen (lacht).

Ich drücke die Daumen, dass in zwei Jahren noch viele Spieler der 73er-Mannschaft mit dabei sind. Leider leben ja bereits nicht mehr alle.

Leider nicht. Sieloff ist schon lange tot, Henning Jensen ist schon drei Jahre tot. Man erschreckt sich immer, wenn man denkt, dass einige Spieler der Mannschaft schon auf die 80 zugehen. So viel Zeit bleibt dann nicht mehr.

23.11.2021