Interview mit Günter Netzer

„Gott muss Gladbachfan sein – warum sonst ließe er seinen Sohn dort spielen?!“ So oder so ähnlich hieß es damals auf Plakaten über einen jungen Mann mit blonder Mähne, der zwar nicht Wasser in Wein, dafür aber Freistöße in traumhafte Tore verwandeln konnte. Niemand trägt wohl mehr Anteil daran, dass aus Borussia Mönchengladbach ein Mythos wurde, als Günter Netzer.

Netzer war einer der besten Mittelfeldspieler, die es je gegeben hat. Und einer der geschäftstüchtigsten. Um sein im Vergleich zu heutigen Verhältnissen geradezu schäbiges Fußballergehalt aufzubessern, eröffnete er eine eigene Disco und gab das „Fohlenecho“ heraus. Zehn Jahre verbrachte er bei der Borussia, ehe er 1973 zu Real Madrid wechselte. Seine Karriere als Spieler ließ er von 1976 bis 1978 bei Grashoppers Zürich ausklingen und wurde Manager beim HSV.

Heute (Stand 23. Juni 2003) sitzt er in der Chefetage des Sportrechtevermarkters „Infront“ und kommentiert so kongenial, wie er einst mit Hacki Wimmer spielte, Länderspiele mit Gerhard Delling. Intelligent und sachlich beantwortete er auch die Fragen der „Bewegung 23. Juni“.

Heute jährt sich zum 30. Mal das Jahrhundertspiel. Haben Sie sich noch mal bei Bonhof für den Doppelpass bedankt?

Ich werde damit noch erstaunlich viel konfrontiert und auch in der Öffentlichkeit darauf angesprochen. So präsent habe ich das eigentlich gar nicht mehr. Hätte ich jetzt wahrscheinlich überhaupt nicht mehr, wenn man mich nicht immer wieder daran erinnert hätte.

Aber Sie denken doch sicher noch gerne an das Spiel?

Oh ja, natürlich. Von der Dramaturgie war das so einmalig, dass nichts Besseres hinterher gekommen ist.

Wieso ließ Weisweiler Sie damals auf der Bank sitzen?

Das war eine fachlich richtige Entscheidung. Ich war nicht in bester körperlicher Verfassung, meine Mutter war gestorben und der Wechsel zu Madrid stand kurz bevor. So hat er mir das nicht zugetraut, dass ich bei diesem besonderen Spiel eine gute Leistung bringe.

Haben Sie ihm das übelgenommen?

Ich habe es ihm nicht übelgenommen. Ich wollte meine Konsequenzen ziehen und nach Hause gehen. Die Kameraden haben mich überredet, mich auf die Bank zu setzen, weil die geglaubt haben, ich kann ihnen noch helfen. Wie recht sie gehabt haben mit diesem Gedanken.

Stimmt es, dass Weisweiler Sie in der Halbzeit noch bringen wollte?

Ganz genau. Die Stimmung im Stadion war gegen ihn, weil ich auf der Bank saß. Da wollte er sich befreien, indem er mich in der Halbzeit einwechseln wollte. In ein Spiel hinein, das durch keinen Spieler zu verbessern war. Jeder der da reingekommen wäre, wäre Außenstehender gewesen, wäre ein Fremdkörper gewesen. Deswegen habe ich das auch abgelehnt. Und das hat die Leute noch mehr wild gemacht, weil sie gesehen haben, ich bin immer noch nicht drin. Die haben gedacht, dieser sture Weisweiler ist Schuld daran. Die wussten ja nicht, was sich in der Halbzeit abgespielt hat.

Was war dann der Auslöser, warum Sie sich dann zur Verlängerung eingewechselt haben?

Einzig und allein die Verfassung von Christian Kulik, der nicht mehr in der Lage war, auch nur einen Schritt zu gehen. Das hat mich veranlasst rein instinktiv mir die Trainingsjacke auszuziehen, an der Bank vorbei zu laufen und dem Herrn Weisweiler mitzuteilen, dass ich jetzt spiele.

Das haben Sie so gesagt?

Genau. „Ich spiel dann jetzt.“

Sie haben nach dem Spiel als Einziger Ihr Trikot nicht getauscht. Was ist damit geschehen?

Ich habe keine Ahnung. Ich habe diese Werte nirgendwo gesammelt. Es gibt kaum Erinnerungen an meine aktive Zeit.

Sie haben es eben schon mal angedeutet. Gab es in Ihrer Karriere ein bedeutenderes Spiel?

Es gab sicher etwas Hochstehenderes. Das Spiel gegen Inter Mailand zuhause, dieses 7:1, ist natürlich von der Qualität her besser gewesen. Aber von der Dramaturgie gibt es nicht annähernd ein Spiel in meiner ganzen Laufbahn, das diese Bedeutung gehabt hat.

Haben Sie noch Kontakt zu Spielern von damals?

Zum Berti immer wieder. Jupp Heynckes werde ich jetzt auch wieder oft sehen. Den Wimmer habe ich vor Jahren mal im Stadion getroffen. Aber sonst ganz, ganz wenig. Kleff sieht man ab und zu. Aber ich lebe ja auch in der Schweiz ein bisschen außerhalb vom Schuss. Die anderen sehen sich sicherlich häufiger.

Hat Sie nach Ihrer aktiven Fußballkarriere nie ein Amt bei der Borussia gereizt. Es hat doch gewiss Angebote gegeben?

Das habe ich ausgeschlossen. Ich bin beim HSV ausgestiegen und habe gesagt: „Der Fußball hat all meine Energien abgesaugt. Man wird mich nie mehr in einem derartigen Amt sehen“. Das hat sich bewahrheitet und als richtig herausgestellt bis zum heutigen Tag.

Gab es denn irgendwelche Enttäuschungen?

Nee, nee. Überhaupt nicht. Ich habe das erlebt und durchlebt. Man kann nicht mehr in diesem Geschäft tun. Ich habe wahnsinnig viel erreicht beim HSV. Diese Phase meines Lebens war damit erledigt.

Was empfinden Sie, wenn die Borussia 2004 den Bökelberg verlässt?

Ich bin kein Mensch, der mit Wehmut daran zurückdenkt und pathetische Worte dafür findet. Das ist nicht so meine Sache. Es ist der Geist der Zeit, dass so etwas passiert. Das ist bedauerlich. Die Erinnerungen können dadurch aber nicht ausgelöscht werden. Es ist notwendig in der heutigen Zeit, Verbesserungen herzustellen. Das tun sie Gott sei Dank mit diesem neuen Stadion. So bleiben mir und den Menschen die vielen tollen Erinnerungen an diesen Platz, wo wir gewirkt haben.

Wann waren Sie das letzte Mal am Bökelberg?

Das ist verflucht lange her.

Schauen Sie sich denn noch Spiele vom VfL an?

Ja, natürlich. Das ist klar. Das ist Pflicht, dass ich da auf der Höhe des Geschehens bleibe.

Hat die heutige Mannschaft noch irgendwas mit der damaligen gemein?

Kann ja nicht. Die heutige Zeit hat nichts gemein mit der von `73. Das ist auch gut so, dass das sich verändert hat. Wir haben unsere Zeit gehabt, die einmalig war. Und ich möchte die nicht gegen die heutige Zeit eintauschen. Die Leute heute werden das in zehn Jahren genauso sagen. Die in unserer Zeit gelebt haben in Gladbach, die haben den schönsten Fußball gesehen, den man in Deutschland sehen konnte. Weil das in dieser Vielfalt geschah. Das war nicht, dass wir einmal im Jahr solche Spiele geliefert haben. Es war sehr häufig der Fall, dass wir zu solchen Leistungen fähig waren.

Sie waren einer der populärsten deutschen Fußballspieler, sind ein beliebter Kommentator und ein erfolgreicher Geschäftsmann. Welche Ziele verfolgt man da noch?

Ich habe mir nie Ziele gesteckt. Ich habe nicht das eine aufgehört, um das andere zu erreichen. Das hat sich bei mir alles entwickelt. Das hat sich ergeben, dass mich plötzlich etwas Neues interessiert hat. Das ist mein Naturell, dass ich das dann hochprofessionell mache. Ich habe keinen Ehrgeiz und keine Besessenheit, überall der Beste zu sein. Das entspricht nicht meinem Charakter. Es hat sich alles ergeben, so wie es ist.

23. Juni 2003